Als er ängstlich aus seiner Haustüre schritt, fand er die Straße, seitdem er sie vor etwa einer Woche das letzte Mal gesehen hatte, verändert vor. Im Neonschummer der Laternen lagen zwischen den geparkten Autos grauschwarze Berge von gefrorenem Altschnee. Der Bürgersteig war auf seiner gesamten Länge – offenbar war der Winterdienst vor Tagen eingestellt worden – mit zerklüfteten, gelblichen Eisplatten bedeckt. Es war eine dieser frostigen, sternenklaren Nächte, die J. eigentlich liebte. Und genaugenommen war es ihm auch jetzt, als belebte ihn diese schwarze Winterszene, diese funkelnde Dunkelheit, mit ihrem gedämpften, kalten Klang.
Abgesehen vom üblichen leisen Hintergrundrauschen der Stadt war nichts zu hören. Die Straße war augenscheinlich von Menschen leer. J. atmete tief ein. Reiner Sauerstoff, dachte er. Er rieb sich die Augen, in die ein eisiger Wind Tränen hineingetrieben hatte, und blickte hinauf zum Nachthimmel. Für einen Moment überkam ihn tiefe Schwermut. Ein Seufzer entwich ihm – die Enttäuschung hatte ihn unvorbereitet getroffen. Dort, wo die Sterne in selten holder Brillanz glitzern mussten, sah er nur diffuse, matschige Tupfer. Bei seinem hastigen Aufbruch hatte er die Brille in der Wohnung liegengelassen. Lichtjahre, unvorstellbare Entfernungen war dieses Licht gereist, um nun, auf den letzten Millimetern, in seinen verkümmerten, behinderten Augäpfeln zu ersterben. Der Schauder über die ihm zugedachte, womöglich undankbarste Rolle im Universum ließ J. erzittern. Oder war es die Kälte, die in seinen Körper hineinkroch? Neben seiner Brille vermisste er hier unten, wie er jetzt schmerzlich gewahr wurde, seine Handschuhe.
Aber es kam nicht infrage noch einmal hinaufzugehen, um die fehlenden Utensilien einzusammeln. Es wäre zu kräftezehrend. Es wäre ein zu herber Rückschlag. Schon das Anziehen, das Heraussuchen einigermaßen unauffällig riechender Kleidung hatte ihn an seine körperlichen Grenzen geführt. Als er eine Viertelstunde lang sein Portemonnaie hatte suchen müssen, wäre ihm beinahe schwarz vor den Augen geworden. Mehrere Sitz- und Atempausen hatte er einlegen müssen, bis er schließlich, einer unverhofften Eingebung folgend, das winzige Lederstück unter seinem durchgelegenen Kopfkissen hervorgezogen hatte. Es steckte tatsächlich noch ausreichend Geld darin.
Fröstelnd verbarg J. die Hände in seinem Parka. Gerade war er im Begriff, die ersten Gehversuche auf dem vereisten Pflaster zu wagen, als die Stille plötzlich unterbrochen wurde. Hektisch telefonierend, hoch gestiefelt, eng behost und in eine taillierte Daunenjacke eingemummelt, stapfte eine vielleicht 22-jährige Studentin eilends an ihm vorbei und verbreitete dabei ungeheure Unruhe. Außerdem verströmte sie einen intensiven, betörend zu nennenden Duft. Sie stieß, indem sie fortwährend plapperte und kicherte, lauter kleine blaue Wölkchen aus. Vor allem kicherte sie – und ihr Kichern schien zuzunehmen. Wie sie so aufrecht geschäftig dahineilte, wirkte sie völlig arglos und unverletzbar, so, als könne niemand ihr etwas anhaben in dieser schwarzen Nacht, dachte J. Als wäre es nicht etwa für ihn ein Leichtes, die Zierliche genau jetzt, in diesem Augenblick, mit einem gezielten Handgriff zu packen und gierschnaubend in den Hausflur zu zerren. Aus ihrem Gebaren sprach die ganz natürliche Unbedarftheit derer, die nie in die Abgründe der menschlichen Seele geblickt haben, vielleicht instinktiv nie hineinblicken wollten, sprach ein Weltvertrauen, um das J. sie aus den tiefsten Niederungen seines schwach pochenden Herzens beneidete.
Sie plapperte und kicherte noch, als sie hinter der Häuserecke verschwand. Nachdenklich hatte J. ihrem idealgeformten Jeans-Po hinterher gesehen. Es war nicht auszuschließen, dass das Kichern ihm galt (das war nie auszuschließen) und dass er also soeben verspottet worden war, auf offener Straße, am Telefon, von dieser jungen Unbekannten, die er liebte.
J. senkte den Kopf, während sein Verstand weiter damit ausgelastet war, die Begegnung nachzubereiten. Dann begann er seinerseits über die firnhaften Schollen zu stapfen. Ein Gefühl der Nostalgie fiel ihn an bei dem körnig-knirschenden Gang; es war eine Erinnerung aus frühen Kindertagen, gleichermaßen glücklich und entsetzlich fern. Beklommen schlug er die Richtung ein, die die Studentin genommen hatte, folgte einige Meter ihrer unsichtbaren Schleppe aus Wohlgeruch, ging jedoch an der Ecke geradeaus und überquerte die Straße, die zu seinem bevorzugten Einkaufsladen führte, aus dem auch jene Tüte voller Lebensmittel stammte, die im Flur seiner Wohnung verrottete. Er blickte in die Querstraße, erahnte hinten das erloschene Werbeschild des Supermarktes, das wie ein großer schwarzer Grabstein vom Parkplatz ragte.
Wie viele unzählige Male hatte er den Weg dorthin zurückgelegt, überlegte J. im Weitergehen. Hatte von dort volle Einkaufstüten nach hause gewuchtet, um ein paar Tage lang damit beschäftigt zu sein, ihren Inhalt aufzuzehren, um danach aufs Neue zwischen Regalen umherzuirren, neue Tüten zu füllen, herüberzutragen, auch deren Inhalt zu verschlingen, um wieder, immer wieder Tüten vollzustopfen, heranzuschleppen und ihre Ladung in seinen nimmersatten Organismus zu kippen, auf dass der sie in Exkrement verwandeln, in die Kanalisation abkoten würde, nur für einen heiligen Zweck: Platz für die nächste Einkaufstüte zu schaffen.
Er zog die Stirn in Falten und schüttelte unwillkürlich den Kopf, wie stets, wenn er ins Philosophieren geriet. Woher kam bloß die Energie, die Menschen für ihr apparathaftes, zutiefst vergebliches Sein aufzubringen vermochten? Welcher kranke Geist hatte sich das alles bloß ausgedacht? Wozu? Fragen, deren Beantwortung nun freilich aufgeschoben werden musste, denn J. war an seinem Ziel angelangt. Erst jetzt, da er vor dem Lokal stand, merkte er, dass der Weg seinem Körper doch zu schaffen gemacht hatte. Seine Gliedmaßen zitterten vor Kälte und Erschöpfung und es entlud sich ein kurzer heftiger Hustenanfall mit Auswurf. J. nahm sich einen Moment Zeit, keuchend, atmend, Kräfte sammelnd, dann trat er in den mit summenden Energiesparröhren taghell ausgeleuchteten Innenraum.
Hinter dem Tresen liefen fünf oder sechs Männer in blauen Polohemden und schwarzen Jeans umher und verrichteten mit ernsten Gesichtern ihre berufstypischen Handlungen. Obwohl kein großer Andrang herrschte (genaugenommen war J. der Erste an der Reihe), verging eine Weile bis sich einer der Männer ihm zuwandte, um mit aggressivem Blick seine Bestellung aufzunehmen. J. sprach den Satz aus, den er sich vorher zurechtgelegt hatte. Im Hintergrund griff sodann ein anderer der Männer, der wohl mitgehört hatte, zum elektrischen Messer, um damit Stücke von dem ewig sich drehenden Fleischkreisel abzuschaben. Die Fetzen fing er mit einer Handschaufel auf und füllte sie mit professioneller Geste in ein geöffnetes Fladenbrot. Damit schritt der Mann zur Salattheke, wo er seine bis dahin fließend wirkende Bewegung jäh abbrach, nur ungefähr in Richtung J.s aufblickte und etwas vollkommen Unverständliches murmelte. Halb wissend, halb schätzend antwortete J. etwas entsprechendes, worauf der Mann stumm in seiner Routine fortfuhr und das Gericht fertigstellte. J. bezahlte bei einem dritten Mann, der über die Bestellung ebenfalls bestens bescheid wusste und außerdem, was J. ungleich mehr befremdete, beim Abrechnen sang. Er sang und deutete einen Tanz an, indem er sich rhythmisch zu jener in Kaskaden heulenden, wummernden Popmusik fremder Gattung bewegte, die zum abweisenden Inventar des Lokals dazugehörte. Die demonstrative Lockerheit des Kassierers konnte nur als Provokation gegenüber dem Kunden gemeint gewesen sein. Dennoch schickte dieser, unvermindert höflich, deutliche Dankes- und Abschiedsworte über den Tresen, als er seinen in Alufolie gewickelten Döner in einer Plastiktüte entgegennahm. Er wartete noch eine Sekunde auf eine Erwiderung; dann drehte sich J. um und verließ das Restaurant.
Er schlug denselben Weg ein, den er hergekommen war. Wieder schleppte er eine Plastiktüte nach hause, aber diesmal stieg Wärme heraus und ein wohlbekannt penetranter, sonderbar verheißungsvoller Geruch. J. beschleunigte seine Schritte. Er konzentrierte sich auf das Heimkommen, malte sich aus, wie er dem Hungertod ein weiteres Mal ein Schnippchen schlagen würde. Würde er eine Gabel verwenden und einen Teller? J. beschloss, dass für beides heute der Tag war. Königlich würde er speisen. An der Haustür angekommen, griff er mit zittrigen Fingern nach dem Schlüssel in seiner Hosentasche.
J. hielt inne. Regungslos, die Hand noch immer krallenhaft in der Hosentasche geöffnet, hörte er tief in sich hinein, um seine Empfindung zu deuten. Aber es war vergebens. Da war nichts – keine Wut, kein Ärger, keine Trauer. Leise und gleichmäßig ging sein Atem, nichts wies auf einen sich anbahnenden cholerischen Anfall. Es war nur Leere in ihm. Er war bar jeder Empfindung, wie seine Hosentasche bar jedes Haustürschlüssels war. Er war erloschen.
Dann sank er zu Boden, langsam aber unabwendbar, als würde eine papierene Hülle in sich zusammenfallen. Er lag auf den eisglatten Stufen. Mit letzter Kraft grapschte er die Tüte, riss die Alufolie auf und stopfte den Döner in sich hinein. Schweinische Grunz- und Schmatzlaute drangen hinaus in die Stille der Winternacht. Schnell hatten sich die künstlichen Aromastoffe in seinem Mund ausgebreitet und dafür gesorgt, dass J. für einen kurzen Moment Glück empfand. Binnen einer Minute hatte er sein Mahl hinunter geschlungen. Um zu trinken griff er in einem nahen Gebüsch nach Schnee. Das Getränk legte sich wie Pelz auf seine Zunge. Es schmeckte nach Salz und Dreck. Passend, dachte J. Vor seinem geistigen Auge betrachtete er die Szenerie von außen; er sah sich als ein räudiges Tier daliegen, röchelnd, bebend, die Schnauze bis zum Anschlag in fettverschmiertem Abfall und bepisstem Schnee vergraben.
Mit einem Lächeln schlief er auf der Stelle ein.
(Fortsetzung folgt möglicherweise)