Exakt hier habe ich 1999 mal drei Wochen lang gewohnt. Bei Bing gibt’s den View noch schöner. Wollen wir doch mal sehen, was mir dazu noch alles einfällt…
In der weißen Doppelgarage stand eine Couch und ein großer Fernseher mit Videorekorder. Man nutzte die Garage wie in einer US-Sitcom als zweites Wohnzimmer. Hm, wobei… gab es überhaupt noch ein anderes Wohnzimmer? In der Garage habe ich jedenfalls erstmals True Lies und Austin Powers geguckt. Der Host Student (HS) konnte große Teile von Tombstone mitsprechen, den fand ich aber ätzend (den Film).
Außerdem gab es in der Garage einen Can Crusher, eine Vorrichtung zum Kleinmachen von Cola-Dosen. Damit konnte man das im Haushalt anfallende Leerdosenvolumen auf wenige Kubikmeter reduzieren. So ein Teil habe ich seitdem nie wieder gesehen — bis heute. Can crushen wurde meine Lieblingsbeschäftigung.
Vor der Garage standen bis zu drei Autos rum, darunter ein Ford Bronco aus den 80ern. Das war der Wagen des 16jährigen HS. Mit diesem Ding sind wir ziemlich viel herumgefahren. Alle paar Meilen haben wir an einer Tankstelle gestoppt, um uns Pepsi-Becher in 32-oz-Größe zu kaufen. Außer dem HS und mir saßen häufig irgendwelche anderen Homies im Auto. Im Radio schien Cowboy von Kid Rock in der Endlosschleife zu laufen. Eines Abends überfuhren wir auf dem Weg zu einer Party eine Klapperschlange, die dann frittiert und gegessen wurde.
Zurück zum Haus. In einem seiner Filme versucht Michael Moore irgendwas mit der Behauptung zu beweisen, dass US-Amerikaner ihre Häustüren immer abschlössen, Kanadier aber nie. Diese US-amerikanische Haustür war jedenfalls niemals abgeschlossen, was Moore ziemlich blöd dastehen lässt.
Das Haus kam mir erstaunlich klein vor. Wenn ich so weit draußen „in der Fläche“ wohnen würde, würde ich zumindest erwägen, mir ein größeres Haus zu bauen. Die paar Bretter mehr können nicht die Welt kosten. Das Haus war von einem ganz spezifischen, süßlichen Geruch erfüllt, den ich jederzeit wieder erkennen würde und den ich USA-Geruch nenne. Es gibt auch einen Shanghai-Geruch, der ist aber weitaus übler. An viele Einzelheiten im Haus kann ich mich nicht mehr erinnern, aber ein Wohnzimmer gab es doch. Es war mit Puppen und kleinen Figürchen liebevoll… dekoriert. Vielleicht eine Erklärung für das Ausweichen der Homies in die Garage.
Unter der Spüle befand sich ein Müllzerkleinerer und aus dem Kühlschrank kullerten per Knopfdruck Eiswürfel. Verdammte Wunderwerke der Technik! In der Küche konnte man außerdem fernsehen, während man Chips mit Tomatenketchup aß. Nachmittags kam zum Beispiel Judge Judy, Simpsons oder Oprah. Einmal war Cybill Shepherd bei Oprah zu Gast und hatte, wie ich mich zu erinnern glaube, einen Menopause-Song vorgetragen (das Wort hatte ich dann interessehalber nachgeschlagen). Was es im gesamten Haus übrigens nicht gab: IT.
Hinter dem Haus lag ein kleiner Wald mit einer Lichtung, die vom HS für Schießübungen genutzt wurde. Das Waffenarsenal war übersichtlich: Zwei Repetierbüchsen, eine Pump Gun und eine Compoundbogen-Ausrüstung. Büchsen und Bogen haben mich nicht so interessiert (das Foto täuscht), die Pump Gun war aber extrem geil. Diese Handbewegung beim Durchladen, die herausfliegende Hülse, der Rückstoß — ein absolut rundes Konzept. Man muss das Zielen auch nur grob andeuten, wenn man die Schrotwolke auf ihren verhängnisvollen Weg schickt.
Natürlich war zu keinem Zeitpunkt fraglich, dass auch ich nach Herzenslust wie ein 15jähriger Irrer rumballern durfte. Littleton, fünf Monate zuvor? War kein Thema. War aber auch nicht nötig, denn es war ja alles total harmlos! Einmal machten wir nachts um 1 Uhr einen Großeinkauf im örtlichen Walmart-Supercenter, der jedoch auf die Hunting-Abteilung beschränkt war und kiloweise Munition umfasste. Am nächsten Tag zog sich der HS seinen Camouflage-Anzug an und wir gingen Tontaubenschießen. Ich kann mir kein friedlicheres Hobby vorstellen. Rückblickend fast schade, dass ich meine Karriere als Waffennarr nie weiter verfolgt habe, aber hierhin passt das auch einfach nicht.
Weil es eine warme Mahlzeit ja in der Schul-Cafeteria gab, wurde selten abends zu hause gegessen. Wenn, dann wurde vorher gebetet. Ich hatte da schon damals demonstrativ nicht mitgemacht, aber das führte zu keinem Eklat. Sympathische Leute. Decent, God fearing people. In der ganzen Region lebten, soweit ich das mitbekommen habe, ausschließlich deutschstämmige, konservative Protestanten. Es ist sowieso unglaublich, wie weit Deutschstämmige in der Provinz Amerikas verbreitet sind, das hat man gar nicht so auf’m Schirm (außer wenn man auf diesen Link klickt).
Der Mittlere Westen ist faszinierend. Was da für Schicksale drin stecken! Wie mutig müssen diese Leute gewesen sein, die nach Westen aufgebrochen sind. Ohne eine sichere Perspektive und nur mit vagen Vorstellungen, was sie erwartet. In welcher Krise müssen sie gesteckt haben, als sie diese Entscheidung fassten? Und dann ließ man sich einfach dort nieder, wo es nicht mehr ging oder wo man fand, dass es richtig war. Das hier war das wahre Amerika — nicht die lächerliche Ostküste mit ihren versnobten Euro-Städten.
Es war ein friedliches Prä‑9/11-Amerika, ein The-Straight-Story-Amerika, sogar ein Prä-Bush-Amerika. Eine selbstzufriedene Welt, die es heute viellecht nicht mehr so gibt. In den Jahren der Bush-Administration sank die Beliebtheit der USA in Deutschland von 78% auf 30% und dümpelt heute auf der 50%-Marke. Jeder Zweite mag Amerika nicht mehr.
Ich frage mich, was aus diesen ganzen Schülern und dem HS eigentlich geworden ist. Ob sie nach Afghanistan gegangen sind, oder in den Irak. Und ob sie dort mit ihrem Humvee genauso launig und sinnlos rumgefahren sind wie wir mit dem Ford Bronco, damals im Spätsommer 1999 in Missouri.
* * *
Nachtrag: Wer war eigentlich Cybill Shepherd? Das war die Blonde aus Taxi Driver. Im Jahr 1999 kannte ich sie allerdings nur wegen ihrer Serie Cybill, die auf ProSieben kam. Ich kannte damals alle Sitcoms… Was ich gerade gelesen habe:
1976 engagierte Martin Scorsese Shepherd für die vergleichsweise kleine weibliche Hauptrolle in seinem Film Taxi Driver. Der weltweite Erfolg dieses Filmes konnte Cybill Shepherds Karriere nicht retten, da in Fachkreisen Gerüchte über ihre Probleme bei Dialogen und mit ihrem Filmpartner Robert De Niro verbreitet wurden. In der Folgezeit trat Cybill Shepherd nur noch in wenigen, kaum Aufmerksamkeit erregenden, Kinofilmen auf. (Wikipedia)
Unglaublich, wie gnadenlos dieses Business mal war. Dass jemandem, der so aussah wie Cybill Shepherd aus angeblichen Talentgründen eine große Hollywood-Karriere versagt blieb… Wahnsinn.
HrGeo
Wie kommt es eigentlicht, dass dein Biograph NICHTS von diesem extrem spannenden und höchstwahrscheinlich prägensten Lebensabschnitt gewusst hat? Oder ist der ganze Beitrag ein Fake?
aj
Betrachte dich durch diesen Blogeintrag informiert. Der ist nicht fake, das wäre zu kreativ für mich.