Als ich vor einigen Wochen meinen Berchtesgaden-Urlaub generalstabsmäßig vorbereitete, recherchierte ich auch Sehenswürdigkeiten in Salzburg. Es gibt in Salzburg ein Museum, das Georg Trakl gewidmet ist, dem anderen großen Sohn der Stadt neben Herbert Feuerstein. Zu Trakl heißt es auf salzburg.info:
Trakl fühlte sich dem Leben nicht gewachsen. Das Versagen in der Schule, die vergeblichen beruflichen Anläufe als Apotheker und später der häufige Wechsel zwischen Salzburg, Wien und Innsbruck lassen ihn als einen von Angst- und Schuldgefühlen verfolgten Menschen erscheinen, dessen Kraft zur Umsetzung in poetische Bilder staunenswert ist.
Expressionistische Lyrik war im Deutsch LK das Thema, das ich am wenigsten kapierte. Über ein Trakl-Gedicht habe ich dann auch eine ziemlich miese Klausur abgeliefert, bei der guten Frau K. Vier minus oder so. Man könnte auch sagen, dass ich bei diesem Thema an meine intellektuelle Leistungsgrenze gestoßen bin. (Es sollte nicht das letzte Mal bleiben.)
Trotzdem oder deshalb war ich von Georg Trakl, diesem schwerstdepressiven Junkie, der mit seiner Schwester schlief und sich mit 27 totkokste, fasziniert. Und so habe ich neulich mal wieder in Trakls Gedichte reingeschaut — konkret in seinen Gedichtband von 1913, den man hier als Ebook runterladen kann.
Wahnsinn, diese Beobachtungen, diese Stimmungen, dieses Umschlagen von Hoch- in Angstgefühle. Schade, dass ich nicht kompetent genug bin, sonst viel Erhellendes dazu zu sagen. Ein Zeit-Artikel zu seinem 50. Todestag ist überschrieben mit „Er notierte das Unausdrückbare“, was es wahrscheinlich gut trifft.
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Letzten Donnerstag war ich mal wieder Wandern. Ich ging einen 24 Kilometer langen Weg von Billerbeck nach Münster-Albachten und überschritt dabei die sogenannten Baumberge. Wer Buchenwälder und Streuobstwiesen mag, dem kann ich diese Wanderung fast uneingeschränkt empfehlen (am Ende auf den Asphaltwegen zieht es sich dann allerdings derbe).
Erst lustlos, dann beschwingt wanderte ich also durch diese Hügellandschaft, die um elf Uhr noch in Nebelschwaden lag. Links und rechts des Wegs reckten mir Apfelbäume ihre frische rotbackige Kost entgegen, die ich dankend annahm. Die Sonne brach durch das lichte Blätterdach der Wälder. Feldhasen hoppelten, Schafe blökten, Kühe käuten wieder. Mir war nicht klar, dass es in der Nähe von Münster eine so gut gemachte Bilderbuchlandschaft gab. Mein Herz ging auf.
Manchmal aber kamen diese erdenden Momente. Einmal ging ich freudestrahlend auf etwas Rundes zu, das auf dem Boden lag und aussah wie eine Frucht. Beim Näherkommen stellte ich jedoch fest, dass es sich um eine tote Spitzmaus handelte, auf deren aufgeplatztem Kadavar eine Wespe krabbelte und äste. Ein kleiner Schreck durchfuhr mich. Und plötzlich kam mir dieser Vers aus Georg Trakls womöglich bestem Sonett in den Sinn, der diesen Augenblick für mich in Worte fasste:
Da macht ein Hauch mich von Verfall erzittern.
Ich hatte mich von der Landschaft blenden lassen. Diese lächerliche Kulisse hatte mich vergessen lassen, in welcher todbringenden Umgebung ich mich aufhielt. In der „Natur“ war der Verfall allgegenwärtig, besann ich mich. Hier spielte der Tod, anders als in unserer gekünstelten Scheinrealität, eine ebenso große Rolle wie das Leben.
Im Fortgang meiner Wanderung mehrten sich die sichtbaren Insignien des Verfalls. Sie waren überall. Rechts ein nasser verfaulter Baumstumpf, links ein vom Sturm abgerissener Ast, eine verdorrte Blume, direkt zu meinen Füßen ein bis zur Unkenntlichkeit grausam zerfetzter Vogel mit verdrehtem Hals. Fast schockierend, wie aus all dem das Leben herausgeprügelt war — reiches, wertvolles, einmaliges Leben — und vor allem: Wie normal das war. Was einstmals lebte, ist in Sekundenbruchteilen vergangen. Vielleicht stimmt es, dass wir uns (also die spätkapitalistische, output-orientierte, atheistische Verdrängungsgesellschaft) viel zu wenig mit dem Tod beschäftigen.
Ist es nicht ziemlich skandalös, dass nichts bleiben wird? Aber wirklich gar nichts? Das ganze Lernen, das ganze Gerede, das ganze Arbeiten, der ganze Stress… und dann: nichts? Wo bleibt da der Aufschrei, frage ich mich.
An einem Maisfeld stand eins dieser Kreuze, wie man sie häufig im katholischen Münsterland antrifft. Da hatten sie einen Steinmetz beauftragt und dann wurde das einfach so hingestellt — ohne jede Gewinnerzielungsabsicht und ohne Geschäftsmodell dahinter. Die Zeit haben sie sich genommen, die Mühe war es ihnen wert. Wenn man über die Vergänglichkeit nachdenkt, kommt man sich ganz schön bescheuert vor, nicht religiös zu sein.